Die jungen Milden
von Roberta Fischli
Endlich passiert mal was, denkt Conradin Zellweger, als das Klimaabkommen in Paris verabschiedet wird. Der Journalist hat den Gipfel von Anfang an verfolgt, und dass es jetzt zu diesem historischen Übereinkommen kommt, macht ihn hoffnungsvoll. Als er das seinen Freunden erzählt, belächeln sie den 27-Jährigen. Und fragen: Warum sollte sich jetzt etwas ändern, wenn es doch schon seit Jahren brennt und die Politiker darauf warten, dass jemand anderer die Probleme löst? Zellweger hat Publizistik und Umweltwissenschaften studiert. Er hat Mühe mit einer Welt, die seine Freunde zu Zynikern werden lässt. Deshalb beginnt er, über Lösungen nachzudenken.
Im Dezember startet Zellweger einen Aufruf zum Kollektiven-Selbstversuch. Nicht mit Plakaten oder Flyern, sondern über das Statusfeld auf Facebook. Das Ziel: Eine Woche lang keinen Abfall produzieren. Er sagt: Ich will zeigen, wo wir die Umwelt im Alltag belasten. Und wie wir etwas verändern können. Aber die Abfallreduktion reicht ihm nicht. Um beim Lebensmittel-Einkauf auf Wegwerf-Plasticsäcke verzichten zu können, nimmt Zellweger waschbare Polymerenetze und Jutebeutel mit ins Reformhaus. Zahnpasta kauft er in Pulverform, Waschmittel stellt er aus Kastanien selber her. Das alles dokumentiert er im Internet. Zellwegers Selbstversuch verbreitet sich im Netz. Erst unterstützen ihn seine Freunde. Dann werden die Medien auf den jungen Mann aufmerksam, der einen nachhaltigeren Lebensstil propagiert. Denn Zellweger ist nicht der einzige. In der urbanen Mittelschicht scheinen sich immer mehr Menschen für ein Leben abseits des Massenkonsums zu interessieren: Sie sind jung, gebildet, und sie wollen nicht länger ein Teil der Wegwerfgesellschaft sein.
Einer von ihnen ist Joel Vergeat. Wenn der 30-Jährige über die Strasse geht, in pelzbesetzter Jacke und schwarzen Loafers, fällt nicht nur seine Kleidung auf. Der Künstler ist gross, breitschultrig, und man trifft ihn oft in Brockenhäusern an. Jetzt sitzt er in einer Buchhandlung, trinkt einen Ingwertee und sagt: Früher, da war ich nur wütend. Ich habe jeden kritisiert, dessen Lebensweise ich ablehnte. Er hält inne. Ich habe dann gemerkt, dass das auch keine Lösung ist. Heute lebt Joel mit seiner Frau Neve und zwei Katzen in Basel in einer Jugendstilwohnung. Was dort herumsteht, ist gebraucht; gekauft am Flohmarkt oder eingesammelt von der Strasse. Vergeat und seine Frau kochen jeden Abend mit frischem und saisonalem Gemüse, es stammt meistens von lokalen Bauernhöfen. Kürzlich hat er sein Smartphone gegen ein gebrauchtes John s Phone getauscht. Dieses Handy funktioniert ohne Display und Kurznachrichten und ähnelt einer kleinen schwarzen Fernbedienung. Um Fotos zu machen, benutzt er eine analoge Kamera. Vergeat versteht nicht, wie man heute noch neue Dinge kaufen kann: Wir reisen um die ganze Welt, um historische Bauten zu besichtigen. Und zuhause muss alles neu sein. Das macht doch keinen Sinn.
Vergeats Wertehaltung kommt nicht von ungefähr. Sein Vater ist Sozialarbeiter, die Mutter Sozialpädagogin. Vergeat hingegen schlägt sich mit verschiedenen Jobs durch, als Reinigungskraft bei einem Nachtclub, als Grafiker bei einem Startup. Er sagt: Früher kaufte ich meine Kleider im Brockenhaus, weil ich keine Alternative hatte. Heute mache ich es aus Prinzip. Früher, da setzte er sich auch in Soziologie-Vorlesungen an der Universität. Weil er dort die kritische Auseinandersetzung vermisste, hörte er wieder damit auf.
Seither liest Vergeat die Bücher aus dem Brockenhaus in seiner Strasse. Natürlich eckt man an, wenn man zu grosse Hemden trägt, mit Flecken, die nicht mehr rausgehen, sagt Vergeat und faltet ein Skizzenpapier zusammen. Es sei nicht nur das Diktat der Norm, das ihn beschäftige. Es ist auch die Sterilität der Wohnräume, der Massenkonsum, der den Menschen die Freiheit verspricht und sie zu Abhängigen macht. Wer sagt denn, wir können nichts dagegen tun? Das ist Schwachsinn. Der Markt richtet sich nach uns. Wenn wir weniger konsumieren, wird auch weniger produziert. So einfach ist das, sagt Joel Vergeat.
Conradin Zellweger und Joel Vergeat sind nicht die einzigen, die für eine nachhaltigere Lebensweise einstehen möchten. Da ist zum Beispiel die Fotografin Andrea Monica Hug, die an Akne litt und sich weigerte, Medikamente mit heftigen Nebenwirkungen einzunehmen. Sie ist überzeugt, dass sich ihre Haut dank dem Verzicht auf tierische Produkte selbst geheilt hat. Oder die angehende soziokulturelle Animatorin Corinne Küng. Sie verzichtet auf Plastik und kocht ausschliesslich saisonales Gemüse. Kosmetikprodukte kauft sie im Reformhaus.
Zellwegers Freunde planen derweil den Bau eines Treibhauses am Zürcher Stadtrand, das zu einem Begegnungsort werden soll. Im Gespräch fallen immer wieder dieselben Stichworte: Verantwortung, langfristiges Denken, Konsumskepsis.
Kauf dich glücklich
Das neue Bewusstsein durchdringt immer mehr Bereiche. Beim Trendsport Cross Fit arbeitet man mit der eigenen Körperkraft und kommt ohne High-Tech Fitnessgeräte aus. Selbst im Bereich der Verhütung ist der Trend auszumachen. Der Verkauf der Pille geht in der Schweiz seit ein paar Jahren zurück, dafür wächst die Nachfrage nach Verhütungsmitteln, die als natürlich gelten. So erlebt die gern belächelte Temperaturmethode ein Revival. Maria Pensotti* hat sich vor einigen Monaten eine Kupferspirale einsetzen lassen. Ihr wurde beim Gedanken an die Hormonzufuhr zunehmend unwohl. Sie sagt: Bis ich endlich einen Arzt gefunden habe, der mich dabei unterstützte, dauerte es lange. Dass das nicht nur mit den Risiken zu tun hat, die ein solcher Eingriff mit sich bringt, davon ist sie überzeugt. Mit einer Spirale macht auch keiner Geld, sagt sie. Von der Pille hingegen profitiert eine ganze Industrie: Die Apotheken, die Ärzte, die Pharmakonzerne.
Dass diese Ansichten in der urbanen Mittelschicht auftauchen, ist kein Zufall. Die Rückbesinnung auf Natürlichkeit wird durch drei Faktoren begünstigt: Bildung, städtisches Leben und Geld. Bildung, weil diese oft erst solche Gedanken ermöglicht. Die Stadt, weil sie ein Anziehungspunkt für Menschen mit ähnlichem Hintergrund und Bewusstsein ist. Und Geld, weil man sich einen nachhaltigen Lebensstil auch leisten können muss. Wer bewusst lebt, spart dafür an anderen Orten, sagt Conradin Zellweger. Ausserdem seien anfallende Mehrkosten auch eine Investition in eine bessere Zukunft.
Das Streben nach Nachhaltigkeit steht auch diametral zur gesellschaftlichen Realität, in der sich ihre Befürworter bewegen: Wer konsequent ist, darf kein Buch bei Amazon bestellen, kein Smartphone nutzen, das mit Edelmetallen aus Kriegsgebieten hergestellt wurde, und nie mehr fliegen. Das würde faktisch zu einer Abkehr von der Gesellschaft führen. Und genau da setzen die Mechanismen des kapitalistischen Systems ein. Diese greifen kulturelle Gegenströmungen auf und kreieren daraus neue Industriezweige. Das geschieht auch jetzt: Das Angebot an biologischen Lebensmitteln nimmt überproportional zu. Die grossen Kleiderhersteller bieten dem Kunden mittlerweile Speziallinien an, die mit fairen Produktionsbedingungen werben und das schlechte Gewissen beruhigen sollen.
Dass ein lachender Bauer auf der Kaffee-Verpackung nicht viel mit der Realität auf den Plantagen zu tun hat, bleibt ungesagt. Auch Banken und Rohstoffgiganten unterhalten heute ganze Abteilungen, die sich mit Nachhaltigkeit beschäftigen. Sie alle suggerieren: Der Kunde muss nicht aus dem System aussteigen, um die Missstände in der Welt zu verbessern. Im Gegenteil: Er muss nur weiterkaufen.
Dass das langfristig nicht funktionieren kann, ist längst nicht nur Einzelnen klar. Doch das Konsumsystem hat einen entscheidenden Vorteil: Es hat sich uns angepasst. Spezifizierte Produkte und Dienstleistungen wie der Online-Einkauf sind auf unseren flexiblen Lebensstil zugeschnitten. Und darauf möchte kaum einer verzichten. Wozu führt diese Unvereinbarkeit von Alltag und der Sehnsucht nach einem moralisch blitzblanken Leben? Bettina Höchli erforscht am Gottlieb-Duttweiler Institut das Konsumverhalten. Gerade am Essen liessen sich Trends oft deutlich und relativ früh erkennen, sagt sie. Zurzeit seien zwei gegenteilige Entwicklungen feststellbar: Einerseits wächst der Bedarf nach gesunden Fertigprodukten, die dem hohen Tempo und der Mobilität der Menschen im Alltag entsprechen. Am Wochenende hingegen gewinnen aufwändige und selbstgekochte Mahlzeiten an Bedeutung. Wissen über Essen werde zum Statussymbol. Ausserdem verlangen die Konsumenten Transparenz. Sie wollen alles wissen: Wo die Kühe lebten, wie der Bauer heisst, woher die Milch kommt. Das Essen solle kompensieren, was im Alltag verloren geht: Sicherheit, Übersichtlichkeit, Kontrolle.
Dieses Umdenken wurzelt in den zahlreichen und vielschichtigen Herausforderungen, die unseren Alltag heute prägen, wie Gregor Husi, Dozent an der Hochschule Luzern, sagt. Das sind zum Beispiel die globalen Finanzmärkte oder der Klimawandel: Hochkomplexe Entwicklungen, die für den Einzelnen kaum greifbar sind. Husi ist spezialisiert auf Wertewandel und soziale Identitäten. Er sagt: Die Globalisierung stellt die individuellen Lebensverhältnisse in komplexere Abhängigkeiten. Wenn wir immer weniger kontrollieren können, schwindet damit auch die Möglichkeit, unser Leben eigenständig zu prägen.
Dass die Rückkehr zu einer natürlichen Lebensweise nicht nur mit Identität, sondern auch mit Verantwortung zu tun hat, davon ist die 26-jährige Desirée La Roche überzeugt. Die Ayurveda-Therapeutin und Fotografin lebt nach der ayurvedischen Lebensphilosophie, einer indischen Heilslehre, die sich auf alle Bereiche des Lebens erstreckt. Im Wohnzimmer riecht es nach ätherischen Ölen, über dem Esstisch hängt eine riesige Weltkarte. Ich habe nicht das Gefühl, dass irgendetwas an meinem Leben erzwungen ist, sagt La Roche, während sie selbstgebrauten Chai-Tee aufgiesst. Sorgenvoll stimmen sie vielmehr die Auswüchse der Leistungsgesellschaft, die es dem Menschen erschweren, auf seine eigenen Bedürfnisse zu hören. Sie habe vor ein paar Jahren begonnen, sich über die Produktionsmethoden in der Landwirtschaft zu informieren, und von da führte eins zum andern. Im Sommer leitet sie einen Schülergarten und engagiert sich in Workshops, in denen sie Kindern und Jugendlichen beibringt, wie man umweltschonend Tagescreme und Shampoo selber herstellen kann. Von einer Mission will La Roche nichts wissen. Sie sieht sich nicht als Ideologin. Sie sagt: Ich will niemanden bekehren. Aber auch: Das Internet gibt uns die Möglichkeit, sich über fast alles selbst zu informieren. Wir wissen heute, wie Hybridsaatgut funktioniert und dass ein Grossteil der Wirtschaft auf kurzfristigen Ertrag ausgerichtet ist, ohne die Langzeitschäden für die Umwelt zu beachten. Die Ausrede, man habe etwas nicht gewusst, zähle nicht mehr.
Es stellt sich die Frage, warum Menschen wie Conradin Zellweger, Joel Vergeat und Desir e La Roche weitgehend alleine im stillen Kämmerchen werkeln. Weshalb entsteht keine generationenübergreifende Bewegung, ein Klassenkampf? Die grossen politischen Ideologien werden in diesem Milieu nicht mehr widerspruchslos akzeptiert , sagt Gregor Husi. Das liege daran, dass die Entstehung soziale Bewegungen in einer hochindividualisierten Gesellschaft immer unwahrscheinlicher werde.
Die Fürsprecher der Natürlichkeit wollen wie jede Generation die Welt verbessern. Neu ist, dass sie dies von zuhause aus anstreben. Das ist nicht so eindrucksvoll, wie sich gemeinsam an einen Baum zu ketten. Aber vielleicht auf lange Sicht nachhaltiger.
*Name geändert
(Text: Roberta Fischli, Fotos: Kostas Maros, NZZ Campus, März 2016, )