Die Jungen Wilden
von Roberta Fischli
Yianni Papoutsis, MEATmission
Vielleicht ist es eine gesellschaftliche Revolution in London, der Stadt, in der sogar das Essen vom Klassengedanken geprägt ist. Vielleicht ist es eine Antwort auf die Finanzkrise. Vielleicht wird es hier, wo neues zwei Wochen später alt sein kann, auch einfach Zeit für etwas anderes. Als sich zwei junge Köche entscheiden, etwas neues zu probieren, will der eine die britische Küche vorantreiben, der andere seine Karriere. Sie tun beides.
Isaac McHale kommt aus Glasgow, er hat rötliches Haar, und wenn er spricht, spannt sich die blauweisse Schürze leicht. Er arbeitete sechs Jahre lang im Sternerestaurant Ledbury. Von seinen Freunden besuchten ihn maximal drei während seiner gesamten Karriere, und nicht, weil sie das Geld nicht hatten. Sie gaben es einfach lieber anders aus. „In diese Restaurants geht man nicht, um sich mit Freunden zu unterhalten“, wird er später erklären. McHale träumt von einem Ort, in dem der Abend mit Freunden nicht zum Geschäftsessen verkommt. Er redet scharf und schnell, ist fasziniert von exotischen Gewürzen und ihren Möglichkeiten. Aber er hat Mühe mit einer Küche, die nach Desinfektionsmittel riecht. Es würde noch Jahre dauern, bis er sein eigenes Essen kochen kann. McHale hat viele Ideen. Eine davon ist, den Weg nach oben abzukürzen.
An einem Kochanlass im Frühling 2010 trifft er zufällig auf James Lowe. Die zwei Männer haben voneinander gehört, beide haben im Restaurant Noma in Kopenhagen gearbeitet, der jahrelangen Nummer Eins. Sie haben genug von Dekadenz, Dekoration und Hierarchie. James Lowe studierte Geografie und Physik, er wäre fast Pilot geworden, und er öffnet jeder Frau die Tür. In seinen vier Jahren als Chefkoch vom St. John Bread & Wine wurde das Lokal zum Inbegriff für britische Qualitätsküche. Jetzt überlegt er sich, wie er die Karte weiter verbessern könnte, und ihm fällt nichts mehr ein. Lowe engagiert sich, um die besten Anbieter zu finden, kocht saisonal, ist ehrgeizig. Schon lange stört er sich am feindseligen Umgang zwischen den Köchen, der Obsession mit einer Technik, die sich am Koch orientiert und nicht am Gast. Der eloquente Mann will die britische Küche wieder sympathisch machen.
In den neunziger Jahren katapultierte ein blonder Schotte die britische Küche in eine Liga, in der das Wasserglas mit Handschuhen nachgeschenkt wird. Sein Name ist Gordon Ramsay, er sieht aus wie ein Bub und flucht wie ein Matrose. Ramsay kam aus der Arbeiterschicht, eigentlich sollte er Fussballprofi werden, dann ging sein Knie kaputt. Deshalb kochte er sich zum Superstar. Während Jamie Oliver damit beschäftigt war, übergewichtigen Teenagern das Kochen beizubringen, tauschte Ramsay Bohnen gegen Kaviar. Er brachte Präzision in Londons Küchen, lange Menükarten, poliertes Besteck. Aber auch das Bewusstsein, dass gutes Essen teuer ist und man niemandem trauen kann. In seinen Küchen dominierten Misstrauen und Missgunst; wer nicht für Ramsay kochte, arbeitete gegen ihn. Er eröffnete mehr als ein Dutzend Restaurants unter seinem Namen, kaufte einen Bentley, wurde von der Königin geehrt und befreundete sich mit David Beckham. Sein Vermögen wurde auf 40 Millionen Pfund geschätzt. Fernsehsender offerierten ihm eigene Sendungen, sie heissen „In Teufels Küche“ und „Master Chef“. Wer sie schaut, hört ihn fluchen. Gordon Ramsay machte sich zum Held und jede Zutat zum Statist. Das Vorbild der Köche wurde zum Tyrann.
James Lowe und Isaac McHale starten ein Projekt. Sie nennen sich Young Turks, ein altenglisches Idiom für junge, gut ausgebildete Aufständische, die sich mit dem bestehenden System überwerfen. Für Lowe wird der Name zur Mission. Für McHale zur Marke, die er in den kommenden Jahren auf Siegeskurs trimmen wird.
Zusammen kochen sie in ausgeräumten Grossraumbüros und überstellten Wohnzimmern. Ihre Gurken und Tomaten sind lokal, sie sparen an Stühlen, Pfannen, und Tischtüchern und vergünstigen dadurch ihr Essen. Die Auftritte sind spontan, die Umgebung willkürlich. Jeder Anlass ist schneller ausgebucht als der vorherige, befreundete Köche springen ein, wenn es sie braucht. Im Oktober 2010 installieren sie sich vorübergehend im Obergeschoss vom Ten Bells Pub, es liegt an der gleichen Strasse wie das St. John Bread & Wine. Dort tanzen lange Staubfäden zu schlechter Luft, die Küche ist verlottert. Als Young Turks kochen sie ohne Karte und Hierarchie, Taubenwurst mit Chutney, Herz vom Lamm mit gegrillten Zwiebeln und Sardellen, Rhabarber Cranachan.Vier Gänge und drei Vorspeisen kosten 39 Pfund, das Menü wechselt jede Woche. Die Eröffnung im Freundeskreis ist eigentlich viel zu früh, nicht mal die Regale sitzen richtig. Als Lowe und McHale am Ende vom Abend verschwitzt vor die vierzig Tische treten, tobt der Raum.
Ihre Statusverweigerung ist ansteckend. Auch andere Köche tauschen exklusive Küchen gegen Unterführungen, Bars, Hinterhöfe. Sie machen die Strasse zur Bühne und kochen für ein Publikum ohne Manschettenknöpfe, mutig und unvorhersehbar. Krabbe und Wassermelonensuppe, gefüllter Seebarsch mit grünem Papayasalat. Ist das thailändische Gewürz aufgebraucht, gehen sie zum indischen Cash und Carry. Konkurrenten werden zu Freunden, mit denen man sich austauschen, von denen man lernen kann, die man weiterempfiehlt.
„Nur noch drei Wochen, dann ist Schluss”, sagen sich Lowe und McHale immer wieder. Die eingeschränkte Platzzahl steigert das Begehren, sie sind jeden Tag ausgebucht, sogar doppelt. Irgendwer überzeugt sie immer, weiterzumachen. Doch sie verdienen wenig, der Betrieb kostet viel. Alle machen alles, jeder wird eingebunden, neben dem Menü kümmern sich die Köche um Emails, kaputte Teller, offene Rechnungen. Als James Lowe nach sechs Monaten aussteigt, um im Ausland zu kochen, macht McHale alleine weiter. Das Obergeschoss wird zum Restaurant, es heisst jetzt „Upstairs at the Ten Bells“. Doch McHale hat bereits ein neues Ziel. Sein eigenes Restaurant öffnet im März 2013. Es liegt in einem ehemaligen Rathaus im östlichen Stadtteil Hackney und sieht aus wie eine Burg. Der Clove Club hat dicke Mauern, hohe Räume, sattes Parkett. Dort serviert McHale warme Tomaten mit luftgetrocknetem Thunfisch und Eisenkraut, die Schichten sind hauchdünn, der Geschmack intensiv. Von der eichengrünen Bar hängt teurer Schinken. Auf den Holztischen stehen Wasser, selbstgebackenes Brot, Kerzen. Abends beleuchten sie adrett gekleidete Geschäftsleute, Freundesgruppen in Lederjacken und Liebespaare in eleganten Kleidern. Die fünf Gänge, Vorspeisen und Desserts kosten zusammen 55 Pfund, Ausnahmen gibt es keine. Wer hier isst, überlässt sich der Küche. Die Portionen auf den eigens hergestellten Tellern sind klein, die Küche ist offen. McHale übernimmt die Essenz der Young Turks und poliert sie für ein neues Publikum.
“Der Clove Club präsentiert sich zwanglos, cool, angesagt. Genau so, wie sich die gutverdienenden Mittzwanziger sehen”, sagt Perm Paitayawat. Der sorgfältig gekleidete Thailänder schreibt auf seinem Blog „The Skinny Bib“ seit drei Jahren über Essen. Er gilt als transparent, unbestechlich, umgänglich. Wo er hingeht, fliegen Türen auf. Er sagt: „Vor drei Jahren war der Preis mit Status verbunden.“ Essen war ein Ereignis, je teurer, desto besser. Heute reicht das nicht mehr. Die neuen Gäste, die „neo-diner“, wollen ein Lokal, mit dem sie sich identifizieren können. Sie fürchten sich nicht vor kommenden Wirtschaftskrisen, sie sind es gewohnt, Geld für Essen auszugeben. Doch sie wollen nicht als white upper-class angesehen werden. McHale schafft, woran Ramsays Generation scheiterte. Er entledigt sich dem Prestige, bietet Qualität für Geld, ist unkompliziert, hochwertig, elegant.
Zur gleichen Zeit, als sich Lowe und McHale im Dachstock des Pubs installieren, brodelt es auch von unten. Yianni Papoutsis ist Produktionstechniker beim Nationalen Ballett, bis er aus einer Laune heraus anfängt, an Partys seinen Freunden Hamburger zu servieren. Weil er offenbar etwas richtig macht, kauft er einen Lieferwagen, um die Burger auf der Strasse zu braten, und auch dieses Geschäft läuft.Als ihm der zweite Wagen geklaut wird, beklagt er sich bei Scott Collins, einem Unternehmer. Die beiden sind Freunde, seit Collins mit seinem BMW vor Papoutsis Wagen gehalten hat, um drei Burger zu kaufen, und zehn Minuten später zurückkam, um zwanzig neue zu holen. „Warum verkaufen wir die Burger nicht in meinem Lokal?“, schlägt Collins vor, seine Firma hat eben ein Restaurant in Südlondon übernommen. Der Raum sei eine Bruchbude, leer geräumt und dreckig. Collins hat nichts zu verlieren, Papoutsis keine Alternative. Und so ziehen die beiden Männer nach New Cross im Süden der Stadt, dorthin, wo sich Schriftzüge über jede Hauswand ziehen. Sie nennen das Projekt #MEATEASY, ihre Adresse findet man nur über Twitter.
Wenige Tage später reicht die Menschenschlange bis auf die Strasse. Umgekippte Abfalleimer versperren den Weg, ein Typ mit vielen Tattoos und wenig Haaren reicht Glühmost durch die Wartenden. Junge Menschen frösteln in Jeansjacken, ihre Hände sind mittlerweile klamm. Manche frieren seit zwei Stunden. Drinnen wischt sich ein Mann übers Gesicht. Yianni Papoutsis trieft. Es ist Schweiss, oder Öl, wahrscheinlich beides. Musik hämmert, es ist schummrig, der Boden klebt. Vor ihm steht sein nächster Kunde, jung und aufgeregt, er sieht aus wie jeder zweite hier. Der Koch, der eigentlich keiner ist, sieht nicht auf, um die Bestellung zu hören. Wer hier ist, will nur eines: seine Hamburger. Es sind die besten von ganz London. Das sagen alle, die sie gegessen haben. Für Papoutsis Hamburger muss man leiden, warten, frieren. Vielleicht schmecken sie auch deshalb so gut.
Collins und Papoutsis schaffen Gläubige, in New Cross werden die Schlangen jede Woche länger. Ihre ist eine triefende, dunkle, laute Welt. Wer rein will, wird Teil davon. Es ist nicht möglich, dabei zu sein, ohne dreckig zu werden, es ist Essen ohne Stoffservietten, rohe Lust. Einige Anhänger kommen mehrmals pro Woche, die Leute reisen von immer weiter her. Doch sie sind unfreiwillige Pioniere. Immer mehr Leute fotografieren ihre Hamburger mit Handykameras. Als ihnen die Becher ausgehen, servieren sie das Bier in Konfitüre-Gläsern. Zwei Wochen später werden sie kopiert. Da beschliessen sie, ein Restaurant zu eröffnen. Auf Twitter rufen sie ihre Anhänger zur Abrissparty. Wer sich ihr Logo tätowieren lässt, kriegt gratis Burger, lebenslang. Vierundzwanzig Gäste legen sich unter die Nadel. Die Mischung aus Anarcho-Kapitalismus und dem Hashtag-Symbol ziert Papoutsis’ Schulter und Collins’ Ellenbogen. Als sie wenige Monate später das MEATliquor Restaurant eröffnen, ist es die Hülle einer alten Welt. Das Lokal liegt hinter dem Oxford Circus, da, wo sich täglich tausend Einkaufstaschen entlangschieben. Die Karte kombiniert Burger und Cocktails. Kritiken werden laut, die Burger seien nicht mehr so gut wie vorher, die Burgermänner hätten sich verkauft. Doch die Warteschlangen reichen noch immer bis ums Gebäude.
Wer heute mit den Pionieren spricht, sitzt zwei Unternehmern gegenüber. “Wir haben keine Konkurrenz”, sagt Collins und dreht an seinen Ringen. Er könnte genau so gut Säbel polieren. Wir sitzen auf Lederhockern in ihrem dritten Restaurant, MEATmission. Die Decke über der Bar ziert eine Glasfläche, ein Mix aus Barock und hysterischen Comiczeichnungen. Der Markt sei brutal geworden, Papoutsis Füsse schaukeln über dem Boden, es gebe neue, die gute Burger aus dem Wagen verkaufen für wenig Geld. Genau das, was Papoutsis und Collins erfolgreich machte. Auf den Tischen stehen Ketchup und aufgerolltes Haushaltpapier. Heute schmieren Künstler die Schriftzüge an die Wand. Ein falsches Kirchenfenster bricht Tageslicht in Rot, Gelb- und Blautöne, im Hintergrund dudelt Countrymusik. Sie haben nur Feinde oder Freunde. Papoutsis fährt sich über die glatten Wangen und sagt: „Wenn du für uns arbeitest und uns hintergehst, dann kontrollieren wir dein Leben, und das deiner Familie, bis ans Lebensende.” Dreizehn Wochen im Jahr ist ein Burgerwagen an Festivals unterwegs. Der bedient hauptsächlich den Backstage-Bereich, Burger für Auserwählte, denn, so Papoutsis, “das normale Publikum ist zugedröhnt und isst nichts.“ Es ist viel passiert seit dem Burgerbraten für die Basis. Er schlürft eine Cola Zero dazu.
Dennoch geben Papoutsis und Collins eine neue Richtung vor. Die Strassenküche wird zum Kreativherd, sie ermöglicht Freiheit ohne Verantwortung, hier kann man neue Gerichte testen, verfeinern, verkaufen. Nachtmärkte entstehen, sie heissen Street Feast oder KERB, und sie finden wöchentlich mehr Anhänger. Twitter, Facebook und Instagram helfen ihnen dabei. Bloggern, die den Hype von der Qualität trennen, kommt eine immer wichtigere Rolle zu. Im Juni 2013 tauschen die spanische Tapasbar Barrafina und die japanische Nudelbar Koya ihre Chefköche und kreieren Tintenfisch-Tortillas. Drei junge Unternehmer gründen die Strassenküche BAO, spezialisiert auf Taiwan. Innerhalb von vier Monaten gehören sie zu den erfolgreichsten in London. Andere kombinieren Gourmet Hotdogs und Champagner. Die neuen Köche kommen von überall, aus Sterneküchen und besetzten Häusern, und treffen sich in der Mitte.
Mit dem Essen wandert auch das Geld auf die Strasse. Gute Konzepte werden sofort aufgegriffen und vermarktet, grosse Namen verpflichten Jungköche, um auf der Strasse neue Gerichte zu testen. Jeden Tag eröffnen neue Restaurants. Und es hat nicht Platz für alle. Yianni Papoutsis und Scott Collins veröffentlichen ein Buch über ihre Geschichte, „The MEATliquor Chronicles“ und gründen ihre eigene Radiostation, „MEATransMISSION“. Sie verewigen sich, um nicht zu verschwinden.
Dass es nicht mehr reicht, Pionier zu sein, merkt auch James Lowe. Als er aus dem Ausland zurückkehrt, sucht er monatelang nach einem Lokal für sein eigenes Restaurant, immer ist jemand mit noch mehr Geld vor ihm. Als er eines findet, benennt er es nach seiner verstorbenen Grossmutter, Lyle. Die Eröffnung ist auf April geplant, die Baustelle liegt zwei Gehminuten von Isaac McHales’ Clove Club entfernt. Die beiden Männer helfen sich noch immer gegenseitig aus und diskutieren ihre Rezepte mit Freunden, Angst vor Nachahmern haben sie nicht. Wer kopiert, sagt James Lowe, kann nicht überholen.