Patrick Seabase
von Roberta Fischli
Er hinterlässt gern Spuren. In diesem Fall sind es braune Erdklumpen auf dem Boden eines Hotels in Schaffhausen. Patrick Seabase hat eben 96 Kilometer Fahrt hinter sich, durch Schlamm und Schnee, auf einem Velo mit einem einzigen Gang. Jetzt lehnt er an der Hotelbar, barfuss, halb nackt und voll tätowiert, und trinkt einen Espresso Macchiato. Er wischt sich über das schlammgesprenkelte Gesicht, schiebt ein Biskuit in den Mund und sagt: «Manchmal frage ich mich, warum zum Teufel ich mir das antue.»
Die Antwort hat er sich selbst hundertfach gegeben. Sie lautet immer ein bisschen anders. Manchmal fährt er für die Trance, die ihn beim Fahren überkommt. Manchmal für den Moment, in dem die Farben verschwinden und das Gehirn nicht mehr imstande ist zu melden, ob er schwitzt oder friert. Immer fährt er für ein Bild von sich selbst, für das er alle Anstrengungen auf sich nimmt, die Schmerzen und die Krämpfe. Denn wenn der 32-Jährige auf seinem Bahnvelo mit achtzig Kilometern pro Stunde eine Strasse hinunterrast, sieht es aus, als würde er fliegen.
Der 32-Jährige Berner fährt Velo und wird dafür bezahlt. Sein Bahnvelo ist eigentlich ein Rennrad für Bahnrennen – vor ein paar Jahren haben es Velokuriere entdeckt, um ihrem Beruf einen zusätzlichen Hauch von Gefährlichkeit zu verleihen. Das Gefährt besitzt eine andere Geometrie als herkömmliche Rennvelos. Es eignet sich hauptsächlich für Fahrten auf geraden, geteerten Strassen und erfordert viel Kraft und Gleichgewicht. Wegen ihres Starrlaufs nennt man diese Velos auch Fixies (von fixed gear). Vor Jahren hat sich daraus eine Szene etabliert, die heute allerdings wieder schrumpft. Seabase hat der Hype um die Fixies nie interessiert, er fuhr mit seinem Velo einfach nur konsequent über Bergpässe. Im Juni letzten Jahres waren es gleich fünf in den Pyrenäen. Es war die erste Etappe der Tour de France von 1910, die wegen ihres Härtegrades abgeschafft und damit legendär wurde. Seabase fuhr vom französischen Bagnères-de-Luchon über den Col de Peyresourde, Col d’Aspin, Col du Tourmalet, Col d’Aubisque und den Col d’Osquich bis nach Bayonne. Er fuhr mit einer einzigen Übersetzung, mit Starrlauf, und ohne Bremsen. Es waren 309 Kilometer und 7611 Höhenmeter. Und er brauchte dafür 12 Stunden und 54 Minuten.
Wer noch nie auf einem Velo an einem Berg gelitten hat, kann diese Anstrengung kaum nachvollziehen. Viele Radprofis sagen: Das ist körperlich eigentlich nicht möglich. Patrick Seabase sagt: „Ich sehe mich nicht als Sportler.“ Das Konservative am Radsport, der Wettkampf, das Kräftemessen, das interessiere ihn nicht. „Ich steige nicht aufs Velo um zu sehen, ob ich schneller oder langsamer bin als ein anderer.“ Ebenso wenig will sich der ehemalige Skater zur Fixed-Gear Szene zählen, die seit Jahren immer präsenter wird. Was er suche, sagt er, sei etwas ganz anderes.
Auf dem Velo bin ich ein Egoist. Es geht nur um mich. Und es geht um das Gefühl, den kleinen Teil an Freiheit, den ich erleben kann. Ob ich hier nach links fahre, oder nach rechts, oder gerade aus. Es geht mir um die Wachsamkeit, die ich auf dem Velo entwickelt habe. Und um die Hürden, die ich damit schon überwunden habe.
– Patrick Seabase
Wie viele, die eine Art Metaphysik suchen in einem schnellen, gefährlichen Sport, jagt Patrick Seabase auch die Schönheit. Und weil er im Gegensatz zu vielen Sportlern mit Kultur gedopt ist, schafft er es mühelos, vom Radfahren den gedanklichen Bogen zu spannen zur konkreten Musik, zu Philosophie und Kunst, zur Malerei von Albrecht Dürer und Hieronymus Bosch. Über diese Themen spricht er leidenschaftlich. Dass die Übersetzung, die er fährt, fast doppelt so viel Kraft verlangt wie die seines Trainingspartners Fabian Cancellara, darüber verliert er kein Wort.
Will man sich vorstellen, was Patrick Seabase eigentlich leistet, dann müsse man sich in ein Formel Eins Auto setzen ohne Bremsen, sagt Danilo Hondo, „und einfach nur lenken.“ Hondo ist für den Nachwuchs der Schweizer Strassen-Nationalmannschaft zuständig. Daneben betreut er Profis – und seit zwei Jahren Patrick Seabase. Es ist kurz vor halb sieben, die Lokale im Lorraine Quartier in Bern sind mittlerweile berstend voll. Der 42-jährige Deutsche ist auf der Durchreise, am nächsten Tag fliegt er weiter nach Fuerteventura. Er trägt zerrissene Jeans, ein blaues Hemd und einen beigefarbenen Cardigan. Er sagt, der professionelle Radsport habe mit der Fixie-Szene wenig zu tun. Wie Seabase überhaupt zum Velo gekommen ist? Hondo überlegt kurz und sagt: «Der Typ hat keinen Führerschein. Was bleibt dir da anderes übrig?» An einem Trainingswochenende auf Mallorca habe ihm Patrick von seinem Plan erzählt, sagt Hondo. Davon, dass er die Mörderetappe der Tour de France von 1910 abfahren wolle. Seabase wollte Hondos Rat. Und seine Expertise als Trainer. Hondo sagt: «Ich fand die Idee sofort gut, weil sie jeder Vernunft widerspricht.»
Patrick Seabase liebt die Aufmerksamkeit. Aber seine Kämpfe trägt er ohne Publikum aus. Wenn er leidet, dann allein. Ausser, es ist jemand dabei, der ihn auf dem Velo filmt oder fotografiert, weil er es eben doch braucht, als Antrieb und Befriedigung: das Bild seines perfekten sportlichen Selbst. Unter der teuren Kleidung verbirgt sich ein Körper, der in jeder Hinsicht modelliert ist. Die helle Haut zieren okkultische und alchemistische Symbole. Sie erstrecken sich von den Armen über die Brust bis zu den Beinen: Zitate von Carl Gustav Jung und Figuren von Hieronymus Bosch, Zeichnungen von Göttern und Teufeln, aber auch Kitschiges und Banales. Der muskulöse Mann modelliert nicht nur seinen Körper. Er schafft sich auch die Welt, die er sehen will. Dass er als Wirtschaftsinformatiker kürzlich an einer Software-Entwicklung beteiligt war, vergisst er zu erwähnen. Was nicht ins Bild passt, wird ausgeblendet.
Vielleicht hat er sich auch deshalb mit neunzehn Jahren einen Künstlernamen zugelegt. Seinen richtigen Namen will der Berner nicht geschrieben sehen. Darauf angesprochen, legt er den Kopf schräg. Sein Mund zuckt unmerklich, und er sagt: «Ich mag die Anonymität.» Der gross gewachsene Mann will nicht greifbar sein. Und er tut alles dafür, dass das so bleibt.Das vermitteln auch die Filmaufnahmen seiner Touren. Sie sind mittlerweile oft von Sponsoren finanziert und zeigen Landschaften auf Sizilien, Gran Canaria, in Eritrea. Zu sehen sind gezackte Berglinien, sandige Strassen und umgekippte Lastwagen. Und mittendrin ein Mann, der spielend durch Schafherden radelt, wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen. Er fährt ohne Schweisstropfen oder gerötete Wangen, entspannt und souverän. Manchmal stemmt er sich aus dem Sattel, dann sieht es aus, als würde er tänzeln. Oft sitzt er nur da, der Oberkörper regungslos, die tätowierten Arme gespannt, die Beine unaufhörlich ratternd. Wenn er eine steinige Strasse hinunterrast und vor einer Kurve das Hinterrad blockiert, um die Geschwindigkeit zu drosseln, tut er das mit derselben Eleganz, mit der er zur Espressotasse greift.
Patrick sucht das perfekte Bild. Und das ist beim Sport eigentlich nicht möglich. Die Aufnahme muss so sein, wie er sich das vorstellt. Und die Kamera muss wegschwenken, bevor er anfängt zu sabbern.
– Danilo Hondo
Was Seabase zensieren will, sind jene Situationen, in denen er kurz vor der Erschöpfung steht. Wenn Salzkristalle das schwarze T-Shirt weiss einfärben und Seabase, völlig dehydriert, gegen den Berg anfährt. Es sind die Momente, die man als Zuschauer von einem Extremsportler sehen will: die Erschöpfung, den Kampf, den Schweiss. Und es sind genau die Momente, die Patrick Seabase nicht zeigen will.
Patrick ist weder Jäger noch Gejagter. Es geht ihm nicht darum, vor irgendwas zu flüchten, oder auf ein Ziel hinzufahren. Er sucht das, was dazwischen passiert, die Reise an sich. Sobald er in die Pedale einklickt, ist er ans Gefährt gebunden – und damit an den Moment.
– Marc Mauron
Patrick wirkt zugänglich. Doch Zugang gewährt er nur den wenigsten. Marc Mauron, ein guter Freund, sagt: «Patrick ist aalglatt. Das weiss er.» Mauron war jahrelang bei einem Getränkehersteller für das Sportmarketing und die gesponserten Extremsportler zuständig. Er sieht selbst aus wie einer. Mit Seabase ist er seit drei Jahren befreundet. Er sitzt in einer Bar beim Helvetiaplatz in Zürich, greift zu seinem Bier und sagt: «Klar will er, dass ihn die Leute gut finden. Er fragt oft, was man über gewisse Dinge denkt. Aber er fragt nicht jeden. » Patrick Seabase, sagt Mauron, wirke manchmal unbeschwert wie ein Kind. Deshalb werde er von vielen unterschätzt. «Dabei ist es nicht immer einfach, die Linie zwischen Begeisterung und Kalkül zu ziehen», sagt er. Er habe Seabases Wesen erst erfasst, als er ihn bei einer Testfahrt völlig erschöpft erlebte. Dann, als der Geschmeidige nur noch ein zitternder, keuchender Entschlossener war.
Wer sich mit Patrick Seabase anfreundet, scheint ihm ein Stück zu verfallen. Das liegt auch an seinen Widersprüchen. Mal ist er äusserst charmant, dann taucht er wieder ab in sein Inneres. Auf die Brust hat er sich eine Gottesfigur tätowieren lassen Aber Patrick Seabase sagt, er glaube nicht an Götter. Er glaube, dass jeder Mensch sein eigener Gott sei. Und natürlich glaubt er an sich selbst.
Das zeigt sich auch in der Art, wie er in das Leben seiner Mitmenschen tritt. Aldo Schaller ist ein ehemaliger Radprofi und heute auf Rennvelos spezialisiert. Sein Sportgeschäft ist Dreh- und Angelpunkt der lokalen Veloszene. Aus der Werkstatt dringt der Geruch von Lösungsmittel und Gummi. Überall im Laden hängen Anekdoten von Legenden: In der Eingangshalle prangt eine signierte Fotografie von Fabian Cancellara, den Schaller seit mehr als zwanzig Jahren kennt. Über dem Arbeitsplatz im Hinterzimmer hängt ein gerahmtes Schwarzweiss-Bild, das ihn mit Lance Armstrong zeigt. Und über dem Regal mit den neuesten Velohelmen klebt ein drittes Foto. Es ist ein bisschen kleiner als die anderen und nicht professionell aufgezogen. Es ist das Bild von Patrick Seabase.
Plötzlich stand er einfach da. Ein schwarz gekleideter Hüne, der ein schwarzes Bahnvelo stösst und behauptet, er sei damit über den Simplon nach Ascona gefahren. Ich bin in Visp aufgewachsen und habe diesen Berg jeden Morgen beim Aufstehen gesehen. Ich habe ihm kein Wort geglaubt.
– Aldo Schaller
Schaller streicht über die Arbeiterhosen und sagt, dann habe sich der junge Mann hingesetzt, einen weissen Laptop aufgeklappt und ihm die Aufnahme der Fahrt gezeigt. „Was ich da gesehen habe, war unvorstellbar. Technik, Aussehen, und die Sicherheit, die er ausstrahlt – das Gesamtpaket ist perfekt. Ich bin ihm sofort verfallen.“ Es ist eine Reaktion, die auch Dave Marshal kennt. Der Mann mit dem dunklen Stoppelbart und der sanften Stimme ist Inhaber einer Marketingagentur und verdient sein Geld damit, Leute zu kennen und zusammen zu bringen, wie er sagt. Seabase kennt er seit zehn Jahren, als dieser noch ein gesponserter Skater war. Mittlerweile berät er seinen Freund in Sponsoring-Fragen und bei Vertragsabschlüssen. Marshal sitzt in seinem Büro an der Wasserwerkgasse, wo es nach Kaffee riecht. Er krault seine Bulldogge Louis und sagt: „Ich habe hunderte DJs und Künstler kennen gelernt. Kaum einer von ihnen hatte diesen Starappeal. Wenn Patrick in einen Raum kommt, dann wandern alle Blicke zu ihm. Bei ihm spürt man: Da ist etwas. Der kann etwas.“
In Kürze will Seabase mit einem Freund ein eigenes Velogeschäft in Bern eröffnen. An einem Februarmorgen schliesst er die Tür zu der ehemaligen Feuerwehrhalle auf. Drinnen riecht es nach frischer Farbe, an den Wänden hängen geometrische Velorahmen und Aufnahmen, die Seabase auf seinen Fahrten zeigen. Seabase schüttelt den Kopf, versteht nicht, weshalb es keine schönen Velokleider gebe. «Ich bin dabei, mit einem Radbekleidungshersteller eine eigene Linie zu entwerfen. » Hier in dieser Halle werde man auch das Rahmenmodell verkaufen, das er zusammen mit einem italienischen Rahmenbauer entworfen hat. Das Geschäft wirkt fertig eingerichtet, aber Seabase sagt, sie warten noch auf ein paar Produkte, die sie unbedingt im Sortiment haben wollen. Bevor nicht alles perfekt ist, will er den Laden nicht öffnen. Auf der Strasse kramt er eine Zigarette aus der Manteltasche und sagt: «Letztens ist mir aufgefallen, wodurch ich mich von anderen unterscheide.» Er lehnt sich an die Schiebetür und sagt: «Die meisten Menschen in meinem Umfeld fühlen sich gut, wenn sie hart trainiert haben.» Er hält kurz inne. «Ich fühle mich gut, wenn ich ausgeruht bin und einfach losfahren kann.» Dann stösst er sich von der Wand ab und setzt sich in Bewegung.