So geht Kult

von Roberta Fischli

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Ramon Hungerbühler / Foto: Monir Salihi

Es ist Sommer im Jahr 2012, als sich in Luzern drei junge Männer kennenlernen. Ramon Hungerbühler studiert Kunst, Flavio Zimmermann Marketing, Sid Hussmann arbeitet als Ingenieur bei einer Sicherheitsfirma. Sie kennen sich vom Skaten und von Konzerten, sonst haben sie nicht viel gemeinsam.

Aber sie haben genug von der geringen Risikobereitschaft ihrer Altersgenossen und der Angst davor, etwas Neues zu kreieren. Sie gründen ein Kollektiv und entscheiden sich für ein Minimum an Regeln und ein Maximum an Freiheit. Jeder soll sich einbringen und selber entscheiden können, wie und wo er was tun will. Diese Strukturlosigkeit ist der Leim, der die drei ungleichen Charaktere zusammenhält. Der impulsive Ramon sieht das Kollektiv als Labor, um seine künstlerische Sprache zu entwickeln. Für den vorsichtigen Mar­ketingstudenten Flavio ist es eine Möglichkeit, Skaten, Mode und Musik zu verbinden. Und Sid, der einzige mit einem fixen Job und geregeltem Einkommen, sieht darin eine Nebenbühne zu seinem Alltag. Sie nennen sich «The Straight and Narrow». Sinngemäss übersetzt, heisst das engstirnig oder kleinkariert, aber auch, auf dem richtigen Weg zu sein. Es ist ein Widerspruch und eine Ansage.

«Wir hatten keine Ahnung, in welche Richtung sich unsere Idee entwickeln wird», sagt der 27-jährige Ramon Hungerbühler und fährt sich über den Kopf, den er aus einer Laune heraus kahlgeschoren hat. Der ehemalige Profiskater trägt alte Jeans und weisse Tennissocken. Er setzt sich auf das abgewetzte Sofa in seinem Atelier in Zürich Wiedikon, einem unterirdischen Raum mit schrill bemalten Leinwänden, und fügt an: «Wir haben einfach mal angefangen.» Die drei Männer machen «Straight and Narrow» zu einem Kaleidoskop, mit dem sie alles, was sie beschäftigt, aufnehmen, neu arrangieren und es damit aufbrechen.

Weil sie sich für Kunst interessieren, laden sie Künstler und Fotografen ein, ein Brett für sie zu entwerfen, und produzieren Skatevideos, die wie Kunstfilme daherkommen. Weil Musik zu ihrem Leben gehört, entwerfen sie mit einer russischen Grafikdesignerin und Schlagzeugerin einer Untergrundband ein T-Shirt und organisieren Partys und Konzerte. Und weil man sich in der Skatekultur über den Kleidungsstil ausdrückt, entwerfen sie mit jungen Modeschaffenden T-Shirts, Caps und Kapuzenpullover. «Was sich bei solcher Zusammenarbeit schliesslich für ein Ergebnis herauskristallisiert, ist für uns nicht so wichtig», sagt der 28-jährige Flavio Zimmermann, «uns interessiert, was davor passiert.»

Als wären sie eine grosse Familie

Indem die drei Männer immer wieder mit anderen Leuten zusammenarbeiten, entwickelt sich «Straight and Narrow» zu einem hybriden Gebilde aus Kreativschaffenden, die sich je nach Projekt neu formieren. In ihrem Umkreis tummeln sich Filmer, Fotografen, Grafiker, Künstler, Musiker und Designer. Mit einigen arbeiten sie regelmässig zusammen, mit anderen sporadisch, Geld verdient damit keiner von ihnen. Wenn Ramon, Sid und Flavio davon erzählen, klingt es, als wäre «Straight and Narrow» eine grosse Familie.

Das zeigt sich auch an der Art, wie sich das Kollektiv nach aussen präsentiert. Auf ihrem Instagram-Profil posieren die drei Männer zusammen mit ihren Freunden mit ver­blitzten Augen in schummerigen Kellern oder mit dümmlichem Grinsen vor aufgemalten Sonnenuntergängen. Wer sich durch ihre Facebook-Seite klickt, findet Ankündigungen für Events und verwackelte Videos von vergangenen Konzerten. Projekte von befreundeten Musikern und Mode­schaf­fenden kündigen sie so enthusiastisch an wie ihre eigenen.

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Sid Hussmann / Foto: Monir Salihi

Aber die drei entwickeln mit ihrem Kollektiv nicht nur eigene Projekte, sie verströmen auch ein Lebensgefühl. Für jedes neue Skateboard veranstalten sie eine Party oder ein Konzert und geben damit sich und ihresgleichen immer wieder einen Grund, zusammenzukommen und sich selber zu feiern. Sie präsentieren sich als Klub ohne Zulassungsbestimmungen. Aber als Aussenstehender hat man das Gefühl, ihre Welt habe eine eigene Sprache und eigene Regeln. Deshalb wollen immer mehr dazugehören.

Es ist Freitag kurz vor sechs Uhr, auf der Treppe vor einer leerstehenden Boutique an der Zürcher Bahnhofstrasse, die zu einem temporären Laden umfunktioniert wurde, sitzen etwa zwölf Männer und Frauen. Alle sind Mitte zwanzig. Sie tragen grosse Kapuzenpullover oder wild gemusterte Jacken und scheinen auf irgendwas zu warten, gesprochen wird nicht viel. Das Kollektiv präsentiert an diesem Abend neue Kleidungsstücke im Pop-up Store, auf Facebook haben sie auch noch ein Konzert angekündigt.

Als Ramon aus der Glastür tritt, hat er eine Goldschiene im Mund, die er an solchen Anlässen trägt, und ein Dosenbier in der Hand. Er begrüsst seine Freunde mit Handschlag oder einer kurzen Umarmung, sie tauschen einzelne Worte aus, danach setzen sich alle wieder hin und schauen aufs Handy oder auf die Strasse. Ramon sieht müde aus, er sagt, er sei gestern an einer Vernissage gewesen, es sei spät geworden. Als ihn ein Typ mit abgewetzten Turnschuhen und kurzen Jeans anspricht und fragt: «Hey, wann beginnt das Konzert?», zuckt er mit den Schultern und antwortet: «Keine Ahnung, irgendwann bestimmt.»

Es ist diese beiläufige Coolness, die sich über alles legt, was die drei tun. Als man ihnen in der Szene vorwirft, grosse Skatemarken zu imitieren und mit dem Lebensgefühl des Sports Geld verdienen zu wollen, kontern sie, indem sie zusammen mit dem norwegischen Künstler Matias Faldbakken ein T-Shirt entwerfen, auf welchem dieser das Logo einer bekannten Skatemarke auseinander­schneidet und neu zu «PreSume» anordnet. Ramon sagt: «Keines unserer Projekte ist darauf angelegt, Profit zu machen. Aber wir lassen uns nicht schubladisieren. Sobald man uns einordnen will, sind wir schon wieder weiter.»

Mit ihrer Haltung, sich nicht auf ein Medium festzulegen, treffen sie den Zeitgeist: Überall in der westlichen Hemisphäre veröffentlichen Musiker Alben, deren Sound besser in einen Ausstellungsraum passt als in die Hitparade, und angesagte Modelabels kreieren einen Mythos um ihre Identität, um sich über die Mode hinauszukatapultieren. Dieser Trend macht auch «Straight and Narrow» über ihre angestammte Szene hinaus interessant. Durch seine intuitive Arbeitsweise taucht der Name des Kollektivs immer wieder auf und immer wieder ab. Über neue Projekte informieren Ramon, Flavio und Sid nur in persönlichen Gesprächen, über Facebook und Instagram. Dass sie immer beliebter werden, zeigt sich daran, dass ihre Konzerte immer mehr Besucher anziehen und neue Kreationen immer schneller ausverkauft sind. Bald tragen nicht mehr nur ihre Freunde ihre T-Shirts und kommen an ihre Events, sondern auch Klubbetreiber und Kunstprofessoren.

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Flavio Zimmermann / Foto: Monir Salihi

«Dass wir bis jetzt nie in die öffentliche Wahrnehmung gedrungen sind, ist ein bewusster Entscheid», sagt Sid Hussmann und fügt an: «Die Schweiz ist klein. Wir wollen uns nicht verbrennen.» Seit ihrer Gründung vor vier Jahren produzieren sie konsequent nur kleine Stückzahlen, die sie auf ihrer Website und in ein paar Schweizer Skateshops vertreiben. Werbung oder Newsletters gibt es keine. Sid sagt, man wolle lieber mit interessanten Menschen Projekte realisieren, statt Verkaufsstrukturen zu etablieren. Birgt der gegenseitige Austausch nicht auch die Gefahr, das eigene Wissen preiszugeben? Sid antwortet mit einer Gegenfrage: «Wozu soll man sich kopieren, wenn man sich gegenseitig weiterbringen kann?»

Die Etablierten wollen mitmachen

Ihr nach vorn gerichteter Fokus und die unbeschwerte Herangehensweise machen das Kollektiv auch für etablierte Kulturschaffende attraktiv: Der Modefotograf Walter Pfeiffer will mit «Straight and Narrow» ein Fotoshooting inszenieren, auch die Künstlerin Bea Schlingelhoff, die an der Zürcher Hochschule der Künste ­doziert, entwirft für das Kollektiv ein Skateboard, auf dem der Balletttänzer Michael Clarke zu sehen ist. Sie sagt: «Das Faszinierende an ‹Straight and Narrow› ist, dass alles über eine Fiktion funktioniert, über eine Geschichte, die dahintersteht. Genauso, wie das Skaten von einem Style oder einer Idee geprägt werden kann.» Sie steht vor der Zürcher Hochschule der Künste und bläst Rauch in die Luft. Als ihre Ärmel zurückrutschen, geben sie den Blick frei auf zahlreiche Tätowierungen. Schlingelhoff kennt die drei Männer seit etwa drei Jahren, auch sie ist früher Skateboard gefahren. Sie meint, ihr falle kein Beispiel ein, in dem es einem Kollektiv gelungen wäre, skateübergreifend interessant zu werden. Sie sagt: «Dass diese drei aber das Potenzial dazu haben, ist keine Frage.»

Eine Frau soll die Zukunft weisen

Doch vier Jahre nach der Gründung sind Ramon, Flavio und Sid nicht mehr inspiriert, sondern frustriert. Infolge ihrer unstrukturierten Arbeitsweise diskutieren sie immer wieder über dieselben Probleme. Eine Lösung finden sie nicht, weil sich keiner von ihnen zuständig fühlt. Weder Regeln noch Verantwortungsbereiche wurden je definiert. Sie haben zwar irgendwann damit begonnen, Listen über Ausgaben und Produzenten zu führen, aber von denen sieht keine gleich aus wie die andere.

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Lena Nussbaumer / Foto: Monir Salihi

Um den Weg in die Zukunft freizuschaufeln, bittet Ramon seine beste Freundin ins Team. Lena Nussbaumer studiert Wirtschaft und Kunstgeschichte, sie bewegt sich seit Jahren im Dunstkreis des Kollektivs. Sie sagt: «Anfangs hat für die drei nur der Moment gezählt. Jetzt müssen sie herausfinden, wo sie hinwollen.» Die 24-jährige Studentin sitzt in einem Lokal beim Idaplatz, wenige Meter von Ramons Atelier entfernt, und sagt, man stelle sich zum ersten Mal grosse Fragen: Kann das Kollektiv grösser werden, ohne die Kreativität zu verlieren? Sollen sie versuchen, sich auch im Ausland zu etablieren? Und wird ihnen «Straight and Narrow» irgendwann eine Rechnung bezahlen? «Ja, ich bin überzeugt davon, dass man ‹Straight and Narrow› grösser denken kann.»

Als sie die drei Männer auffordert, über ihre Vision für das Kollektiv zu sprechen, stellen sie fest, dass sie ganz verschiedene Vorstellungen haben. Sid will die finanzielle Unabhängigkeit und die Flexibilität nicht aufgeben. Ramon ist überzeugt, «Straight and Narrow» international interessant machen zu können, wenn sie die Ressourcen klug einsetzen und sich richtig positionieren. Flavio, der sich mittlerweile ums Marketing für einen Skateshop kümmert und seine Freundin Julia Seemann bei ihrem Modelabel unterstützt, kann beide verstehen. «Es war furchteinflössend, über die Zukunft zu reden», sagt Ramon nach der langen Sitzung durch die wacklige Telefonleitung, «das haben wir noch nie gemacht.» Er ist auf dem Weg nach Zug, um ein Förderstipendium in Empfang zu nehmen. Erleichterung und Stolz schwingen mit, als er sagt, sie hätten sich auf eine gemeinsame Vision geeinigt: «Wir wollen erst strukturieren, dann expandieren.» Was bedeutet das genau? Ramon antwortet: «So, wie wir das bisher gemacht haben.» Sie fangen einfach mal an.

(Text: Roberta Fischli, Fotos: Monir SalihiNZZ Campus, November 2016)