Vor 40 Jahren: Deutscher Terror in Stockholm

von Roberta Fischli

Am 24. April 1975 überfallen sechs Terroristen der Rote-Armee-Fraktion die deutsche Botschaft in Stockholm und nehmen zwölf Geiseln. Sie wollen die Freilassung von inhaftierten Mitgliedern erzwingen.

Es regnet in Stockholm, als kurz nach dem Mittag des 24. April 1975 fünf junge Männer und eine Frau im Abstand weniger Minuten in die Eingangshalle der deutschen Botschaft treten. Sie heissen Ulrich Wessel, Lutz Taufer, Karl-Heinz Dellwo, Bernhard Rössner, Siegfried Hausner und Hanna Krabbe. Vier von ihnen schickt der Pförtner mit ihren Anliegen in die Konsularabteilung im ersten Stock. Den letzten beiden verwehrt er den Eintritt und verweist sie mit ihrem Anliegen an die schwedische Ausländerpolizei. Als wenige Minuten später jedoch der Sozialreferent der Botschaft und sein Fahrer aus dem Gebäude treten, öffnet sich die Tür zum Innenraum des dreistöckigen Gebäudes doch. Ohne zu zögern, springen die zwei ungebetenen Gäste durch den sich schliessenden Türspalt. Als ein Sicherheitsbeamter hinterher eilt, bedrohen sie ihn mit einem Maschinengewehr.

Explosiver Kampf der RAF

So schildert Butz Peters, Journalist und Autor des Buches «Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF» den Beginn des bewaffneten Botschaftsüberfalls in der schwedischen Hauptstadt durch Anhänger der Rote-Armee-Fraktion (RAF). Die RAF, eine militante linksradikale Terrorbewegung, hatte seit Jahren mit gezielten Anschlägen politisch zu wirken versucht. Sie war eine von zahlreichen links inspirierten Widerstandsbewegungen während der 68er Jahre. Doch die RAF kämpfte von Anfang an mit explosiven Mitteln. Auf einen Kaufhausbrand in Frankfurt im Jahr 1968 folgten weitere Attentate im deutschen Raum, darunter diverse Sprengstoffanschläge und Banküberfälle. Als die Drahtzieher der Bewegung, unter ihnen Andreas Baader und Gudrun Ensslin, im Jahr 1972 verhaftet wurden, genossen sie bereits die Bewunderung einer «zweiten Generation», die in ihrem Namen weiter gegen die «Ungerechtigkeiten der kapitalistischen Welt» kämpfen wollte. Oberste Priorität dieser zweiten Generation war es, die inhaftierten Mitglieder der Bewegung aus dem Gefängnis zu befreien. Der Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm vom 24. April 1975 diente genau diesem Ziel.

Der Präzedenzfall

Einige Monate zuvor war es einer anderen linksextremistischen Gruppe gelungen, durch die Geiselnahme des Vorsitzenden der Berliner CDU, Peter Lorenz, fünf inhaftierte «Genossen» freizupressen. Die Auslieferung der Inhaftierten aus dem Frankfurter Gefängnis wurde im Fernsehen übertragen, und die öffentliche Erleichterung über das unblutige Ende des Spektakels war gross. Die Anhänger der RAF hatten aus dem spektakulären Gefangenenaustausch jedoch eine andere Botschaft gelesen: Die deutsche Regierung ist erpressbar.

Mit ähnlichen Mitteln wollte man in Stockholm Ähnliches erreichen. Am Nachmittag des 24. April 1975 hatten die Entführer zwölf Personen in ihrer Gewalt, doch die Polizei wollte auch nach wiederholten Drohungen nicht aus dem Erdgeschoss weichen. Kurz vor 14 Uhr holten die Terroristen den Botschaftsattaché Andreas Baron von Mirbach aus dem Botschafter-Zimmer und zwangen ihn, den Polizisten eine Drohung zu übermitteln: Sollten sie sich nicht innert fünfzehn Minuten aus dem Gebäude zurückziehen, werde er vor den Entführern erschossen. Als sich die Polizei auch darauf nicht zum Rückzug bewegen liess, schickten ihn die Täter kurz vor Ablauf des Ultimatums ein weiteres Mal ins Treppenhaus. Doch die erneute Warnung änderte nichts an der Polizeipräsenz im Gebäude. Eine Viertelstunde nach Ablauf des Ultimatums knallten fünf Schüsse aus dem ersten Stockwerk, wo sich die Geiselnehmer samt ihren Opfern verbarrikadiert hatten. Dann stiessen die Entführer den Attaché die Treppe hinunter. Er starb am selben Tag im Spital.

Die Eskalation

Am späteren Nachmittag, kurz vor 17 Uhr, rief der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in Bonn einen Krisenstab zusammen. Man war sich der Bedeutung des kommenden Entscheides bewusst; die Freilassung sämtlicher hochkarätiger Mitglieder der Bewegung würde jahrelange Polizeiarbeit zunichtemachen. Im Unterschied zur Entführung Lorenz‘ war der Aufenthaltsort der Entführer der Polizei diesmal jedoch bekannt. Ausserdem forderten die Entführer die Freilassung von sechsundzwanzig inhaftierten Aktivisten – im Fall des CDU-Politikers Lorenz waren es fünf gewesen. Die Regierung und die Opposition einigten sich darauf, den Forderungen der Entführer nicht nachzugeben. Nachdem der Entschluss in der Regierungszentrale in Bonn gefällt worden war, nahm Bundeskanzler Schmidt mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Kontakt auf. Dieser schickte seinen Justizminister Lennart Geijer in die Botschaftsresidenz neben dem Tatort, von wo aus Geijer den Terroristen per Telefon den Entscheid aus Bonn überbrachte. Wenig später beobachtete ein Publikum aus Polizisten, Reportern und Schaulustigen, wie der Wirtschaftsreferent Heinz Hillegaart an ein Botschafts-Fenster trat und wild gestikulierte. Dann schoss ihm ein Entführer in den Kopf.

Kurz vor Mitternacht, es hatte in der Zwischenzeit keine Opfer mehr gegeben, explodierte Sprengstoff im Gebäude. Die Ursache der Detonation ist bis heute unbekannt. Schwer verwundet flüchteten die verbleibenden Geiseln aus der brennenden Botschaft. Fünf der Entführer stellten sich wenig später der Polizei. Ulrich Wessel, sechstes Mitglied und Anführer der Bande, starb noch am Tatort an seinen Verletzungen. Erst zwei Jahre später, am 20. Juli 1977, fiel ein Gericht ein Urteil gegen die inhaftierten Täter: Lutz Taufer, Hanna Krabbe, Karl-Heinz Dellwo und Bernd Rössner sollten lebenslang hinter Gitter – Siegfried Hausner, der Sprengstoffexperte der Gruppe, war wenige Tage nach dem Botschaftsüberfall seinen Brandverletzungen erlegen.

Das Ende der RAF

Am 18. Oktober 1977 brachten sich die drei Anführer und Gründungsmitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Gefängnis um, nachdem eine Flugzeugentführung durch Anhänger der zweiten Generation gescheitert war. Das offizielle Ende der RAF kam erst 21 Jahre später. Am 20. April 1998 erhielt die Nachrichtenagentur Reuters ein achtseitiges Schreiben, in welchem die dritte und letzte Generation der RAF ihre Auflösung bekannt gab. Darin hiess es: «Die stadtguerilla in form der raf ist nun geschichte. Das ende dieses projekts zeigt, dass wir auf diesem weg nicht durchkommen konnten.»

Der Autor und Zeitzeuge Stefan Aust bemerkte dazu in der «NZZ am Sonntag»:«Kein Bedauern über die Opfer der ‹Stadtguerilla›, keine Selbstkritik, kein Schuldgefühl. Nur die lakonische Feststellung, dass der bewaffnete Kampf falsch gewesen sei, weil er keine Aussicht auf Erfolg hatte.» Die Spuren der Rote-Armee-Fraktion waren verheerend und zahlreich. In den knapp drei Jahrzehnten ihres Wirkens kamen Dutzende Personen ums Leben, mehr als zweihundert wurden verletzt. Und ihr Kampf endete, wie es die RAF-Anhänger im Schreiben selbst schilderten, mit einer Niederlage.

 (Roberta Fischli, Neue Zürcher Zeitung, 23. April 2015)